Zivilversagen am Abgrund Drucken

"Einen Abgrund von Landesverrat" nannte Konrad Adenauer die Vorgänge, die zur Verhaftung von Rudolf Augstein im Jahr 1962 führten. Bereits 2014 bezeichnete der Kölner Stadtanzeiger den NSA-BND-Skandal als "mutiples Staatsversagen". Die jetzigen Ermittlungen gegen netzpolitik.org bedeuten aktuell nicht nur einen weiteren Höhepunkt in dem Überwachungsdrama auf deutschem Boden - es stellt auch ein "multiples Zivilversagen am Abgrund" dar.

"Landesverrat? Nein, netzpolitik.org schützt die Demokatie" und "Demokratie und Geheimnis widersprechen sich" - so heißt es unzweideutig in der ZEIT ONLINE zu den Ermittlungen gegen netzpolitik.org. Gleichzeitig sieht der Generalbundesanwalt Harald Range keinen Grund, gegen die NSA zu ermitteln, um dabei festzustellen: "„In unserer Rechtsordnung gibt das Strafrecht den Flankenschutz von der Seite – marschieren müssen schon Politik und Gesellschaft.“

Wenn also selbst der oberste Strafverfolger sich als unfähig erweist, seiner übergeordneten Aufgabe nachzukommen - nämlich Schaden von Deutschland abzuhalten - wie reagieren dann die aufgeklärten, vernetzten und leistungsorientierten Bürgerinnen und Bürger? Genau - gar nicht! Außer ein paar Tweets und einer Handvoll Blogeinträge wird wieder einmal genau nichts passieren. Sascha Lobo beschrieb dieses Totalversagen der merkelschen Zivilgesellschaft am 10.06.2015 mit den Worten: "Sie, der deutsche Durchschnittsbürger, sind hauptverantwortlich für die fatale Digitalpolitik, weil Sie alles mit sich machen lassen."

Schon vor gut einem Monat stand das digitalisierte Deutschland - vulgo '#Neuland' - bereits in der Nähe des Abgrunds. Doch mit der Anzeige des Präsidenten des Verfassungsschutzes und der sofortigen Aufnahme der Ermittlungen durch die Bundesanwaltschaft haben wir alle einen großen Schritt vorwärts gemacht. Denn wo 1962 die Spiegel-Affäre das Ende der Adenauer-Ära und damit den Aufbruch in ein modernes Deutschland markierte - ist heute nicht damit zurechnen, dass irgend einer dieser Pseudo-Nerd-Überwachungs-AktivistInnen vom Sofa aufstehen wird, die Katzenvideos sausen lässt und sich an den Protesten gegen den Überwachungsstaat beteiligt.

Dass eine solche Tat wie jetzt gegen netzpolitik.org von Verfassungsorganen Jahrzehnte nach der SPIEGEL-Affäre überhaupt möglich ist, ist nicht in erster Linie auf die machtversessenen und geheimdienstabhängigen Staatsorgane zurückzuführen. Was hier offen zutage tritt, ist die mangelnde Bereitschaft der Zivilgesellschaft, für Demokratie und Freiheit einzustehen. Merkels Doktrin der marktkonformen Demokratie, die eben in erster Linie den folgsamen und stillen Untertanen benötigt, wurde von einer ganzen Generation an Bürgerinnen und Bürgern derart aufgesogen, dass kein Aufstand zu erwarten sein wird.

Seit Monaten ziehen die Freiheit-statt-Angst-Demos durch deutsche Innenstädte - die Resonanz ist mau bis schlecht. Seit Wochen stehen AktivistInnen jeden Samstag vor der BND-Zentrale, um gegen den außer Kontrolle geratenen Geheimdienst zu protestieren. Unterstützung vom ChaosComputerClub, von den Oppositionsparteien, von den traditionellen Bürgerrechtsgruppen? So gut wie nicht vorhanden.

Wer derart deutlich macht, wie egal ihm der Überwachungsstaat in Wirklichkeit ist, wer so verängstigt auf die größte Kanzlerin aller Zeiten starrt und jeden Anflug von zivilem Ungehorsam als Unbotmäßigkeit abtut - der darf sich eben nicht wundern, dass Journalisten in die Fänge der Geheimdienste geraten. Ja, dies ist eine Beschimpfung der gut ausgebildeten Versagerinnen und Versager, die ihren Arsch nicht hoch kriegen, um für ihre Zukunft zu kämpfen. Oder wie Sacha Lobo schreibt: "Werden Sie aktiv. Oder halten Sie den Mund und schauen fern."

Wer die Schnauze aufmachen will statt fernzuschauen - der hat die Gelegenheit hier:

Alle anderen kann ich noch mit auf den Weg geben: mangelnde Zivilcourage ist heilbar!

 

 

Zuletzt aktualisiert am Donnerstag, den 30. Juli 2015 um 22:10 Uhr